COVID19 IST ÜBERALL. VON DER POLITISCHEN STIGMATISIERUNG AFRIKAS: Prof. Folasade Ogunsola (Lagos) im Interview

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Eine sehr aufschlussreiche Stellungnahme der nigerianischen Mikrobiologin zum Impfstand und zu den Gründen, warum Afrika weniger von Corona betroffen ist als andere Kontinente.

«Vermutlich wird Afrika wegen der tiefen Impfquoten stigmatisiert. Doch Covid ist überall. Die Stigmatisierung ist nicht wissenschaftlich, sie ist politisch»
NZZ – 14.09.2021, 05.30 Uhr
Die nigerianische Mikrobiologin Folasade Ogunsola hat mehrere Jahrzehnte Erfahrung in der Epidemienbekämpfung. Im Interview sagt sie, vieles an der Corona-Pandemie in Afrika werde missverstanden.
Von Samuel Misteli
In Afrika fehle der Impfstoff, weil die reichen Länder ihn horteten – das ist ein Refrain der Corona-Pandemie. Nun sind im August allein über die Covax-Initiative fast 21 Millionen Dosen auf dem Kontinent eingetroffen, so viele wie in den vier vorangegangenen Monaten zusammen. Trotzdem werden laut der WHO 42 von 54 afrikanischen Ländern das Ziel verpassen, bis Ende September 10 Prozent der Bevölkerung vollständig gegen Covid-19 zu impfen. Die Mikrobiologin Folasade Ogunsola erklärt, woran das liegt – und weshalb sie trotzdem keinen Grund für Panik sieht.

Foto (c) nzz/PD: Folasade Ogunsola ist Professorin für medizinische Mikrobiologie an der Universität Lagos, einer der wichtigsten Hochschulen in Nigeria. Bis vor kurzem war sie auch Vizerektorin der Universität.

Frau Ogunsola, hat Afrika noch immer zu wenig Impfstoff, oder liegt das Problem inzwischen anderswo?

Wenn das Ziel sein soll, 10 Prozent der Bevölkerung zu impfen, haben wir noch immer ein Versorgungsproblem. In Nigeria hatten wir am Anfang 3 Millionen Dosen für 210 Millionen Menschen – wir haben noch nicht einmal alle Gesundheitsangestellten und verletzlichen Personen geimpft. Doch die Leute waren auch skeptisch, es gab viele Gerüchte und negative Presse um die Impfungen. Zum Beispiel war da das ganze Drama in Europa um AstraZeneca. Dann erhielten wir hier deren Impfstoff, und die Leute dachten sich: «Das ist eine Zweitklassimpfung.»

Sie sprechen in der Vergangenheitsform – ist die Skepsis gesunken?

Sie entwickelt sich. Manche Leute sagten sich: «Mal abwarten, was passiert, wenn die Ersten die Impfung erhalten.» Diese Leute sehen nun, dass bei den Geimpften alles okay ist. Diese Skeptiker lassen sich nun impfen. Dann gibt es wie überall die Unbelehrbaren, bei denen man wenig ausrichten kann. Und dann haben wir eine weitere Herausforderung, viele Leute fragen sich: «Weshalb werden wir geimpft? Es gibt ja gar kein Problem.» Viele bezweifeln, dass Covid existiert, weil wir keine spürbare Gesundheitskrise haben.

Foto (c) Akintunde Akinleye / EPA: Eine Frau in einem Impfzentrum in Lagos ruht sich aus, nachdem sie ihre erste Impfdosis erhalten hat.

Wie meinen Sie das?
Covid ist in der Realität vieler Leute hier nicht angekommen. Die Leute auf dem Markt zum Beispiel, ihre Nachbarn leben noch. Vielleicht ist einer gestorben, oder zwei, aber das könnte auch sonst passieren. Wir sind in Afrika gewohnt, Fieber zu haben, wir sind Infektionskrankheiten gewohnt. Und die Symptome von Covid gleichen jenen von Malaria. Ich sagte zu meinen Mitarbeitern: «Jedes Mal, wenn ihr Fieber habt, ist es Covid, bevor ihr nicht das Gegenteil beweist.» Sie hielten mich für alarmistisch – bis mehrere von ihnen positiv auf Covid getestet wurden. Was ich zu sagen versuche: Covid fühlt sich hier an wie eine weitere Infektionskrankheit, auch weil es weniger Leute tötet als in Europa.

Dass Covid viele afrikanische Länder angeblich nicht so hart trifft wie Europa oder die USA, ist ein wiederkehrendes Thema. Weshalb sollte Afrika weniger betroffen sein?

Wir entwickeln noch immer Theorien, ich kann meine nennen. Das Durchschnittsalter in Afrika liegt zwischen 16 und 24 Jahren, weniger als ein Viertel der Bevölkerung ist über 65 Jahre alt. Demografie ist also ein Faktor. Ein zweiter: Viele Leute, vor allem Ärmere, halten sich meist draussen auf. In Nigeria sind es die Reicheren, die an Covid sterben, und das hat mit unserem Lebensstil zu tun. Wir sind oft drinnen, mit Klimaanlagen, wo die Konzentration von Coronaviren in der Luft deutlich höher sein kann. Ein weiterer Grund: Teil des Problems mit Covid ist, dass das Immunsystem überreagiert. Es sieht Covid und denkt: «O mein Gott, was ist hier los?» Hier aber sind unsere Immunsysteme ständig Viren und Parasiten ausgesetzt, vielleicht reagieren sie deshalb weniger heftig. Ausser eben bei den Wohlhabenden, die in einer sauberen Umgebung leben. Schliesslich: Unsere Kindersterblichkeitsraten sind sehr hoch, gerade aufgrund von Infektionskrankheiten. Das heisst, jene, die besonders verletzlich wären, sind oft schon tot.

Aber was ist mit Berichten von überfüllten Intensivstationen, wie es sie zum Beispiel aus Uganda gab?

Das zeigt eher, wie begrenzt die Kapazitäten in vielen afrikanischen Ländern sind. Wenn die Hospitalisierungszahlen in England zum Beispiel identisch gewesen wären mit jenen in Uganda, wären in England weder der Sauerstoff noch die Intensivbetten ausgegangen.

Und was ist mit Studien, die anhand von Friedhöfen zeigen, dass es an manchen Orten eine hohe Übersterblichkeit gab, zum Beispiel in Äthiopien oder auch Nigeria?

Ich bezweifle nicht, dass die ausgewiesenen Zahlen viel zu tief sind. Aber selbst wenn man die Zahl der Infektionen um den Faktor 30 erhöht oder die Zahl der Toten um den Faktor 20: Es ist noch immer kein Tsunami wie in Europa. Was die Übersterblichkeit angeht: In Nigeria gab es zum Beispiel in Kano viele Todesfälle. Sie machten Schlagzeilen, die Regierung schritt ein und stellte die Stadt unter Lockdown. Wir merken auch in Nigeria, wenn sich die Todesfälle häufen. Es ist möglich, dass die betroffenen Gemeinschaften sie nicht mit Covid in Verbindung bringen. Vielleicht sagen sie: «Die Götter sind wütend.» Doch sie merken, dass etwas nicht stimmt, und machen Lärm, weil sie Angst haben. Das ist nicht der Fall. Es ist klar, dass Afrika weniger stark von Covid betroffen ist. Ich bin gespannt, ob Delta daran noch etwas ändern wird.

Ich war vor ein paar Monaten in Nigeria, und mein Eindruck war, dass jene an Covid glauben, die es sich wirtschaftlich leisten können. Also jene, die zum Beispiel von einem Lockdown nicht in den Ruin getrieben werden.

Ja, aber das ist auch, weil die Wohlhabenden tatsächlich ernsthaft von Covid betroffen sind. Die meisten Verstorbenen kommen aus dieser Gruppe. Das Immunsystem der Ärmeren dagegen ist Infektionskrankheiten gewohnt, es sieht Covid und denkt sich: «Okay, noch eine.»

Falls die Ärmeren in Afrika tatsächlich weniger stark von Covid betroffen sind: Kann man rückblickend sagen, dass die Lockdowns an vielen Orten auf dem Kontinent falsch waren – weil sie gerade die vielen Millionen Menschen, die von der Hand in den Mund leben, besonders hart trafen?

Vermutlich, aber das ist im Rückblick einfach zu sagen. In Lagos zum Beispiel trat Covid zuerst in den wohlhabenden Kreisen auf. Der Lockdown zielte darauf, zu verhindern, dass das Virus in die Slums gelangen würde. Wir dachten: «Wenn das Virus in die Slums gelangt, wird alles explodieren.» Doch die Katastrophe trat nicht ein, und die Leute fragen: «Weshalb hat man uns einen Lockdown aufgezwungen, wenn wir es uns gar nicht leisten konnten?»

Das heisst, mit dem Wissen, das wir nun haben, würden Sie neue Lockdowns ablehnen?

Wegen Covid sollten wir keine Lockdowns mehr haben. Es ist zu spät, wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben. Aber wir sollten unseren Lebensstil so anpassen, dass uns das Virus nicht überwältigt.

Wie zum Beispiel?

Wir sollten Massenveranstaltungen regulieren. Wir sehen, dass viele Leute, die an Covid sterben, sich an Superspreader-Anlässen infiziert haben – an Gottesdiensten, Hochzeiten, Beerdigungen. Das sind Anlässe, die in klimatisierten Innenräumen oder in grossen Zelten ohne Frischluftzufuhr stattfinden. Früher fanden diese Anlässe im Freien statt. Vielleicht sollten wir auch darüber wieder nachdenken.

Vor kurzem haben Sie in einem Interview gesagt: «Wir haben einen reaktiven Zugang zu Gesundheit in Afrika.» Was meinten Sie damit?

Wir haben auf diesem Kontinent viele Epidemien, in Nigeria zum Beispiel gerade einen Cholera-Ausbruch. Wenn die Epidemie ausbricht, fliesst sofort viel Geld. Wir stoppen sie, und sobald sie vorbei ist, lehnen wir uns wieder zurück. Wenn wir die Hälfte des Geldes, das wir für Epidemien ausgeben, in die Verbesserung des Gesundheitssystems stecken würden – in Ausbildung und Überwachung zum Beispiel –, dann hätten wir nicht ständig diese verheerenden Epidemien. Wir könnten sie rechtzeitig stoppen. Es ist unglaublich, wie viel Geld wir für all diese Epidemien ausgeben. Und vieles wird von Gebern finanziert, auch das ist ein Problem.

Weshalb?

Die Hilfsgelder haben dazu geführt, dass unsere Regierungen weniger Geld in das Gesundheitssystem stecken; sie glauben, die Geber würden im Ernstfall schon eingreifen. Und die Geber fokussieren auf grössere Epidemien. Wir hatten einmal einen grossartigen Impfschutz in der Grundversorgung. Nun geben wir uns mit diesen kurzen Energieanfällen zufrieden.

Hat man denn aus den Epidemien der letzten Jahrzehnte, aus HIV und Ebola zum Beispiel, nichts gelernt?

Was die Gesundheitssysteme als Ganzes angeht, nicht. Es ist für Politiker einfacher zu sagen: «Ich habe ein neues Spital gebaut», als: «Ich habe das System gestärkt». Es könnte aber sein, dass Covid etwas daran ändert. Mit Ebola und HIV kamen Politiker nicht in Kontakt. Covid dagegen trifft ihre Freunde. Und so sehen wir plötzlich mehr politischen Willen. Manche fangen an zu begreifen, dass Infektionsprävention und -kontrolle Konstanten sein müssten. Aber was zählt, sind nicht Worte, sondern, diese in Taten umzusetzen. Ich sehe bis jetzt nicht, dass deutlich mehr Geld für Gesundheit vorgesehen wäre.

Ein Punkt, an dem mehrere afrikanische Regierungen ansetzen wollen, ist die Herstellung von Impfstoff auf dem Kontinent. Für wie wichtig halten Sie dies?

Für absolut wichtig. In Afrika leben 1,3 Milliarden Menschen, und wir sprechen darüber, 10 Prozent der Menschen zu impfen. Das ist, weil wir betteln müssen. In Nigeria produzierten wir früher unsere eigene Gelbfieber-Impfung. Aber als wir uns stärker auf Hilfsgelder verliessen, hörten wir damit auf. Etwas, was uns Covid gelehrt hat, ist: Wir müssen als Kontinent zusammenarbeiten, weil wir sonst benachteiligt sind. Wir sprechen nun mehr miteinander, die Forscher und auch die Regierungen.

Wenn Corona Afrika tatsächlich weniger hart trifft als Europa, hiesse das nicht auch, dass es weniger dringlich ist, möglichst rasch möglichst viele Menschen auf dem Kontinent zu impfen?

Das ist möglich. Aber wir haben noch immer viele verletzliche Menschen hier. Wir haben Diabetiker, wir haben Krebskranke, wir haben auch alte Leute. Wir sollten sie alle impfen. Und wir sollten auch mehr als 10 Prozent der Bevölkerung impfen. Ich bezweifle, dass wir Impfquoten von 60, 70 Prozent erreichen wie in Europa oder den USA. Aber ich sehe keinen Grund für Panik.

Haben Sie keine Bedenken wegen neuer Varianten, die entstehen könnten, wenn sich das Virus ungebremst verbreitet?

Wir werden noch viele Varianten sehen. Hier sind wir aber an dem Punkt, an dem wir Covid in Kontext setzen und uns sagen: «Okay, es ist nicht so schlimm, wie wir am Anfang dachten.» Wir haben viele Infektionskrankheiten, und manche von ihnen töten mehr Menschen als Covid. Malaria tötet, Tuberkulose tötet, wir haben Meningitis-Ausbrüche. Cholera tötet, auch Lassa-Fieber tötet.

Und Sie haben keine Angst, dass Afrika in den Augen der geimpften Welt zum Covid-Kontinenten wird, wenn die Impfquoten tief bleiben?

Vermutlich wird das passieren. Bereits jetzt, da unsere offiziellen Zahlen tief sind, versuchen uns alle zu überführen. Es heisst: «Na klar, das ist, weil sie nicht testen.» Niemand will glauben, dass wir weniger stark betroffen sind. Es gibt einen generellen Willen, zu glauben, dass alles schlecht ist in Afrika und dass die Leute in Afrika halt sterben. Es geht auch um den Feel-good-Faktor: Man hat den Afrikanern mal wieder geholfen. Aber noch einmal: Afrika ist weniger stark betroffen. Werden sie uns stigmatisieren? Vermutlich für eine Weile. Aber Covid ist überall. Die Stigmatisierung ist nicht wissenschaftlich, sie ist politisch.

Die Corona-Pandemie hat dazu geführt, dass wissenschaftliche Debatten plötzlich vor einer breiten Öffentlichkeit ausgetragen werden. Finden afrikanische Wissenschafterinnen und Wissenschafter genügend Gehör in der globalen Debatte um Covid?

Nein, und zwar aus vielen Gründen. Nehmen wir zum Beispiel den Zugang zu wissenschaftlichen Zeitschriften: Viele von ihnen sind sehr teuer. Die meisten europäischen und nordamerikanischen Universitäten leisten sich Abonnemente. Selbst wenn afrikanische Wissenschafter Ermässigungen bekommen, kosten die Abos noch immer 500 bis 1000 Dollar. Das ist mehr, als manche afrikanische Wissenschafter im Monat verdienen. Ein weiterer Aspekt: Die Arbeiten, die afrikanische Wissenschafter einreichen, werden skeptischer begutachtet. Es heisst: «Sind wir sicher, dass sie das alleine gemacht haben? Wissen die, was sie tun?» Ich weiss das, weil ich selber in Gutachtergremien sitze. Das Misstrauen führt dazu, dass Arbeiten von afrikanischen Wissenschaftern geringere Chancen haben, veröffentlicht zu werden, wenn sie quer stehen zum dominierenden Narrativ. Und wenn die Arbeiten zum Narrativ passen, heisst es: «Ach, das wissen wir ja schon, was soll neu daran sein?»

Was sind die Folgen dieser Mechanismen?

Dass unsere Bedürfnisse und Probleme unten auf der Prioritätenliste stehen. Und dass Lösungen nicht für uns entwickelt werden, sondern später für uns übersetzt werden. Wobei Covid uns da neues Selbstvertrauen verschafft hat: Plötzlich machten alle die Erfahrung, zu wenig Ressourcen zu haben – was zuvor schon unsere Realität gewesen war. Nehmen wir das Beispiel der persönlichen Schutzausrüstung: Wir hatten schon lange darüber gesprochen, Masken länger zu verwenden, sie zu waschen und wiederzuverwenden. Als am Anfang der Pandemie vielerorts die Masken ausgingen, überlegten sich das plötzlich alle.

Falls die Pandemie in Afrika irgendwann endet – wie wird sie enden?

Ich vermute, die Infektionszahlen sind so hoch, dass die meisten Leute immunisiert werden, indem sie sich infizieren, manche von ihnen mehrmals. Ich wäre nicht überrascht, wenn wir an manchen Orten schon Herdenimmunität erreicht hätten.

Also werden nicht die Impfungen das Ende bringen?

Es wird eine Mischung sein. Aber wir haben noch immer nicht genügend Impfstoff. Ich glaube, wir werden in Afrika Herdenimmunität durch natürliche Infektion erreichen, unterstützt durch Impfungen. Im Westen dürfte es umgekehrt sein: Herdenimmunität durch Impfen, gestützt durch natürliche Infektionen.

Zur Person: Folasade Ogunsola hat mehrere Jahrzehnte Erfahrung in der Bekämpfung von Infektionskrankheiten. Sie hat ausgiebig zu HIV geforscht und war bei der Gründung mehrerer Infektionskontrollprogramme in Nigeria beteiligt. Sie ist die Vorsitzende des Infection Control Africa Network (ICAN) und Mitglied in mehreren WHO-Gremien.

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